Der Weg zu uns selbst

Gegenstand unserer Untersuchungen ist das Wesen bzw. das Dasein der Frau, welche in der heutigen Welt mit unzähligen Gefahren und Bedrohungen Krieg, Flucht, Hunger, Prostitution, Pornographie, Armut, Arbeitslosigkeit, patriarchalen Gesundheits- und Bildungspolitiken und Besessenheit von Ehemann oder Liebhaber konfrontiert ist. “Wenn ein Wesen mit der Vernichtung seiner Existenz konfrontiert ist, ist die erste Frage nicht die Frage nach seiner Freiheit, sondern in erster Linie der Schutz der eigenen Existenz und das im Rahmen des Möglichen […]. Wer kein Sein hat, hat auch keine Freiheit. Erst wenn eine Existenz da ist, wird Freiheit möglich”(Rêber APO). Diese Ausführungen sind überaus wichtig in Bezug auf die Beziehung zwischen Existenz und Freiheit. Heute gibt es ein hegemoniales System, das die Existenz der Frau sowohl physisch als auch ideologisch zu vernichten versucht. Aus diesem Grund müssen wir gegen dieses System in erster Linie lernen, unsere Existenz mit unseren eigenen Möglichkeiten und Perspektiven zu schützen. Damit eine Frau ihre eigene Existenz schützen kann, muss sie ihre Existenz, ihr Wesen zunächst kennen und bestimmen. Sie muss ihr Wesen, ihre Existenz mit ihren eigenen Begriffen und Definitionen benennen und beleuchten.

Das ‘ICH’ neu definieren

In ihrem Buch “Das andere Geschlecht”, 1949 erschien, beschreibt Simone de Beauvoir, die die Strömung des existenzialistischen Feminismus begründete, den Ursprung der gesellschaftlichen Probleme als “zusammenhängend mit der Art und Weise, seine eigene Existenz wahrzunehmen”. Sie schreibt weiter: “Weil Frauen als das Andere, und Männer dagegen als das ‘Ich’ konstruiert werden, sind Frauen dazu bestimmt, im Rahmen dessen, was sie nicht sind, in einem männlichen Rahmen als das ‘Andere’ definiert zu werden, bis sie sich in ihrem eigenen Rahmen definieren.” Um nicht “dazu bestimmt zu sein, als das ‘Andere’ definiert zu werden”, müssen wir uns selbst definieren. Denn, wer sich nicht selbst definiert, wird durch andere definiert. Die Wichtigkeit dessen betont auch Rêber Abdullah Öcalan, wenn er schreibt: “Für das richtige Leben ist es essentiell, dass die Frau und ihre Rolle im gesellschaftlichen Leben bestimmt werden. Diese Konklusion erfolgt nicht aus biologischen Besonderheiten der Frau oder ihrem Status in der Gesellschaft. Der Begriff der Frau als Existenz ist wichtig. In dem Maße, in dem die Frau definiert wird, wird auch die Definition des Mannes eher möglich”

Um die Realität der Frau richtig zu erkennen und zu definieren, ist es eine der grundlegendsten Ausgangspunkte der Jineolojî, die falschen Beschreibungen der Frau durch die Mythologie, Religion, Philosophie und Wissenschaft umfassend zu untersuchen und zu analysieren und die Fehler in diesen Definitionen der Frau zu korrigieren. Ein weiterer Ausgangspunkt ist, wobei wir uns als die weibliche Perspektive definieren, die Auseinandersetzung und Abrechnung mit jeder Form von herrschaftsgierigen Einstellungen, die uns bisher fremdbestimmt haben, d.h. die Ablehnung von falschen, irreführenden Bestimmungen und Definitionen unseres Wesens und die Entwicklung von eigenen Definitionen mit eigenen Begriffen, welche auf unseren Erfahrungen und unserem Wissen beruhen. Mit einem Wort heißt das auszudrücken, dass wir trotz der falschen Benennungen der letzten Jahrtausende nicht vernichtet worden sind, nicht verschwunden sind. Es bedeutet, uns selbst einen Namen zu geben. Etwas zu benennen, ihm einen Namen zu geben, ist charakteristisch für Göttinnen. Wenn wir uns selbst benennen und uns somit mit der Frauenidentität der Göttin, welche in der Geschichte schon am Längsten existiert, verbinden, bedeutet das, dass wir auf dem richtigen Weg sind, unsere Existenz zu bestimmen und auf unseren Wurzeln zu stehen.

Jineolojî wird aufdecken, was für eine grausame Form der Gewalt die Fremdbestimmung der Frau und der Einfluss dieser Bestimmungen auf unser Leben ist. Seit 5000 Jahren ist diese Form der Gewalt, welche den ersten Schritt zur Vernichtung unserer Existenz bildet und uns falsche Definitionen einprägt, die unserem Wesen zuwider sind, ein großer ideologischer Angriff gegen die Identität der Frau. Wir werden untersuchen, von welchem hegemonialen Mann und an welchem Tisch diese Angriffe vorbereitet wurden. Was für eine Bedeutung hatte diese Realität im Laufe der Geschichte im gesellschaftlichen Leben der Frau? Um diese Frage zu beantworten müssen wir zunächst betrachten, wie die Frau zu verschiedenen Zeitpunkten wahrgenommen und definiert wurde. Was ist die Frau in der Mythologie, in der Religion, in der Philosophie und in der Wissenschaft? Das alles müssen wir sehr gut wissen und verstehen, denn wenn wir ihre Definitionen, die uns in unserem Leben eingesperrt und unsere Körper ermordet haben, nicht dechiffrieren, können wir zu keinen gesunden Bestimmungen unseres eigenen Wesens gelangen.

Die radikale Feministin Mary Daly sagt: “Die Reise der Frau strebt von einem unabhängigen, unechten, künstlichen Bereich in den Bereich der Wahrheit. Die Reisenden müssen das Patriarchat benennen und auf diesem Weg werden sie erkennen, dass die Verneinung des Falschen auf die richtige Fährte führt. Vorher in einem patriarchalen Verständnis definiert und vom Selbst und von der Welt ausgeschlossen, werden sie jetzt zu einer positiven Bewegung, die in eine neue Seins- und Werdungswelt jenseits des patriarchalen Raums übergeht.” Diese Reise können wir beschreiten, um die Wissenschaft unseres Wesens zu entwickeln.

Das Fundament dieser Reise ist die Trennung der Frau von den Wesensbestimmungen, die seit Jahrtausenden einen massiven Druck auf sie ausgeübt haben und an die sie gezwungen wurde zu glauben. Die Frau besitzt eine eigene reale, freie Natur und Existenz. Und daneben gibt es noch die Identitäten, die das herrschende System auf der Basis der ideologischen Vernichtung entwickelt hat, die aufrecht erhalten werden, obwohl sie das wahre Wesen der Frau nicht ausdrücken. Viele Einrichtungen und Traditionen des etatistischen, machtorientierten, sexistischen Systems hindern die Frau mit ideologischer und bloßer Gewalt daran, ihr Dasein zu leben.

Wenn Frauen ihre Existenz, ihr Wesen bestimmen, müssen sie sich diese Realität permanent vor Augen halten. Mit Vernunft, Intuition, Gefühl und emotionaler Stärke können wir herausfinden, welche Besonderheiten zu nunserem wahren Wesen, zu unserer Existenz gehören. Wenn wir uns unserer Intuition bedienen, können wir entdecken, welche unserer Besonderheiten die ästhetische, ethische und freie Gesellschaftlichkeit und Individuen ernähren und erhalten können. Zum Beispiel ist Gewalt im Wesentlichen keine Eigenschaft der Frau. Die Realität einer zerstörerischen, mörderischen Frau ist nicht dominierend bzw. vorwiegend. Deshalb müssen wir als Frauen all die ideologischen, soziologischen, politischen und sexuellen Kleider, die uns zwar angezogen worden sind, aber künstlich sind, ausziehen, bis wir zu unserer nackten Realität, zu unserem Wesen gelangen. Dies können wir eine “Reise zu uns selbst” nennen, oder die Reise von unserer vermeintlichen Existenz zu der Existenz, die wir wirklich sind.

Existenz der Frau

In der Auseinandersetzung mit der Frage “Was ist die Existenz der Frau?” können wir über zwei Wege voranschreiten. Zum einen müssen wir die Daseinszustände der Frau, die der Frau seit 5000 Jahren durch erbarmungslose Ausbeutung und Unterdrückung auferlegt wurden, und die

sie selbst auch zu einem bedeutenden Teil angenommen hat, fassen und beschreiben. ,,Der erste Schritt der Soziologie sollte es sein, die gesamten Inhalte und Strukturen die von den Händen und dem Verstand des Mannes tausende Jahre das Leben der Frau ausgebeutet und zu Versklavung geführt haben, festzustellen und zu begreifen.” Damit diese Schritte uns zur ursprünglichen, natürlichen Existenz der Frau führen und auf dieser Grundlage auch zu ihrer Jineolojî, müssen wir über den zweiten Weg fortfahren. Wir müssen die echte Natur, Existenz und das echte Wesen der Frau entdecken. An diesem Punkt ist es für uns zum Vorteil, dass wir eine lange Geschichte hinter uns haben. Erfahrungen aus der Vergangenheit und das Sein der Frau in den natürlichen und neolithischen Gesellschaften sind Prozesse, die uns stärken.

“Das Frausein ist keine physisches sondern ein gesellschaftliches Phänomen… Es ist die grundlegendste Aufgabe der Sozialwissenschaft, die Ursachen der Verzerrungen über das Frausein aufzudecken”. Wenn die Jineolojî diese Revolution verwirklicht, die die Sozialwissenschaften so dringend brauchen, muss sie diese “grundlegendste Aufgabe”, von der Rêber Abdullah Öcalan spricht, überwältigen. Wenn das Phänomen des Frauseins, welches nicht biologisch sondern soziologisch ist, nicht richtig definiert wird, können wir die Frage nach der Frauenbefreiung,ganz zu Schweigen davon sie zu lösen, sie nicht einmal richtig analysieren. Insofern ist es notwendig, “die Ursachen der Verzerrungen über das Frausein aufzudecken”. Deshalb müssen wir auf dem oben genannten ersten Weg voranschreiten, bis wir bei den Ursachen angelangt sind. 

-Übersetzung aus dem Buch: “Jineolojiye Giriş