Die erste wahre Freundin: Ronahî Amed

– Azê Erdal

Ein deutsches Sprichwort besagt: „Aller Anfang ist schwer“. Dies ist vor allem passend, wenn eine Person einen tiefen Einblick in die eigene Gefühls- und Gedankenwelt gestatten möchte. Dementsprechende Erinnerungen teilen möchte, die das eigene Leben von Grund auf geprägt haben. Begegnungen und Bekanntschaften mit bestimmten Personen verändern dein Leben. Auch meine Bekanntschaft mit meiner ersten  wahren Freundin, Genossin oder am besten gesagt ‚Heval‘ hat mich geprägt. Als ich die Arbeiten der kurdischen Freiheitsbewegung Angesicht zu Angesicht kennenlernte, war ich noch 15 Jahre alt. Nun fragst Du Dich, nur 15? Doch 15 Jahre in einem patriarchalen System zu leben, kann dem Menschen, vor allem einer jungen Frau, viel entnehmen. Auch bei mir war es der Fall, denn ich hatte die Hoffnung an der ‚Frau‘ verloren. Alles im System erschien hoffnungslos und unecht. Das Schreckliche war, dass es keine Alternative gab, bis ich ‚sie‘ kennenlernte. Für mich ist sie Heval Arjîn, für euch Heval Ronahî (Leyla Şaylemez).

          Heval Ronahî ist diejenige Person, die in mir das Bild eines freien Lebens vervollständigte. Sie kam zu einer Zeit, wo wir uns als Jugend neu strukturierten. Es war nach langer Zeit, das erste Mal, dass sich eine Jugendkommune organisierte. Wir waren eine kleine Anzahl an Personen die amateurhaft versuchten für unsere Sache zu stehen. Kurz danach kam Heval Ronahî, stellte sich uns aber als ‚Arjîn‘ vor. Sie war die erste Freundin, die ich kennenlernen durfte. Auch sie musste sich zu aller erst zwischen all den männlichen Jugendlichen bewähren. Sie stellten Heval Ronahî auf die Probe, versuchten ihr ihre patriarchalen Eigenschaften aufzuzwingen, doch Heval Ronahî ließ dies nicht zu. Durch ihre natürliche Autorität bewunderten alle Jugendlichen sie. Sie war eine junge Frau, die ganz genau wusste, was sie tun wollte. Sie wusste stets zu wichtigen Zeitpunkten Reflex zu zeigen und dadurch gewann sie den Respekt von Alt und Jung, von Frauen, sowie auch Männern. Ihre natürliche Haltung, ihre Redekunst, ihr Lächeln, ihr Singen, ihr Aktionismus, u.v.m. waren ganz einfach eindrucksvoll. So schaffte sie es in kürzester Zeit mit uns Eins zu werden.

          Ursprünglich ist Heval Ronahî eine Freundin, die aus Licê (Amed) stammt, was ihr auch sehr schnell angesehen werden konnte. Sie wird 1989 in Mersin (Türkei) geboren und wandert in den 90er Jahren mit ihrer Familie nach Deutschland aus. So wächst sie überwiegend in Halle auf. Sie lernt durch ihre Familie die kurdische Freiheitsbewegung kennen und politisiert sich schon in jungen Jahren. Studiert im System, verliert sich selbst jedoch nicht. 2009 tritt sie der kurdischen Freiheitsbewegung bei und verbringt anderthalb Jahre in der Heimat. Als sie Ende 2011 zu uns kam, war sie neu aus der Heimat gekommen und es war ihr anzusehen, dass ihr Blick auf die Heimat gerichtet war. Ihre Augen spiegelten die Schönheit der Freien Berge Kurdistans wider. Mit diesem Blickwinkel war sie in Aktionen, in denen es darauf ankam Einsatz zu zeigen, immer hoch fokussiert. Sie setzte jede Aktion, mit den Aktionen auf den Bergen Kurdistans, gegen eine Stellung des Feindes, gleich. Sie plante ihre Züge, als wäre sie auf einem Schachtfeld, in dem es um den strategischen Sieg ging. Heval Ronahî in dieser Situation zu beobachten, war stets bewundernswert und beeindruckend. Diese Klarheit und Zielentschlossenheit, mit einem hundertprozentigen Erfolgsziel, an das uns nicht ihre Worte, sondern ihr Handeln und ihre Haltung glauben ließen. Durch ihre organisierte Art und Weise schaffte sie es die Jugendlichen, um sich herum zu sammeln.

          Es war so, wie Heval Ronahî es sagte. Ich lernte durch sie, was es bedeutet Aufgaben zu verinnerlichen, und den Ehrgeiz zu haben diese erfolgreich zu absolvieren. Sie lehrte uns, dass nicht nur ein Weg zum Ziel führt. Eines Tages als wir wieder zum Komel (auf Deutsch: ‚Verein‘) gingen, sagte sie uns: „Merkt euch, wir müssen stets unterschiedliche Wege benutzen, auf dem bekannten Weg wirst du dem Feind nur zur Beute.“ So war es ihr wichtig, auch mal Umwege, die viel mühsamer waren zu nehmen, um erfolgreich zum Ziel zu gelangen. Ich lernte von ihr, zu hören und meinen Willen mit dem Willen der Bewegung zu vereinen. Heval Ronahî kämpfte mitten in Europa, in einem Gebiet, wo der Feind hinterlistig vorgeht, mit einem tiefen Bewusstsein gegen liberale und kapitalistische Eigenschaften an. Doch so ernst sie in ihrer Arbeit auch war, ihre Liebe und ihre Hevaltî (auf Deutsch: ‚Genossenschaft‘) zeigte sie in jeder Lebenslage. Sie war unsere Kommandantin und wir waren ihre KämpferInnen.

Im Sommer 2012, als ich in die Heimat ging, fragte ich Heval Ronahî ob sie etwas haben wolle. Sie sagte, dass sie ein Şeleme (auf Deutsch: ‚Taillengürtel‘) möchte. Ihr Herz war in der Heimat verankert und so machte sie sich zu jener Zeit schon Gedanken über eine Rückreise. Ich suchte zig Läden ab und fand am Ende ein Şeleme für Heval Ronahî und eins für mich. Als ich jedoch wieder in Europa ankam, war Heval Ronahî nicht mehr in unserer Stadt. Ich wartete auf das Internationale Kurdische Kulturfestival, doch auch dort konnte ich sie nicht antreffen und beließ mich mit der Hoffnung, dass ich sie im Februar in Straßburg sehen würde.

Doch dann kam der 09. Januar 2013

          Es war 05:50 Uhr als mein Telefon in der Finsternis der Winternacht läutete. Ich nahm es nicht ernst und dachte, es wäre nur mein Wecker. Ich legte unbewusst auf. Dann klingelte es noch einmal und ich nahm wahr, dass es nicht mein Wecker war. Ich nahm ab und ohne, dass ich etwas fragen konnte, hörte ich eine junge Frau reden: „Hast du die Nachrichten gelesen?“. Ich antwortete verwirrt „Nein, habe ich nicht!?“. Und wieder sprach sie: „Guck auf ANF, Heval Arjîn ist Şehîd gefallen.“ Ich laß die Nachrichten, doch wollte es nicht wahrhaben. Erschlagen von jenen Worten, die durch das Telefon versuchten in meinen Verstand einzudringen, legte ich auf und glaubte es nicht. Denn die Realität des Lebens übermannte mich. Diese Realität wahrzunehmen, hieß dem Feind den Kampf anzusagen. Der Krieg, den ich bis zu jener Zeit nur auf den Bergen Kurdistans kannte, war nun auf den Straßen Europas. Drei Frauen, drei Leben, drei Freundinnen. Sara, Rojbîn und Ronahî wurden vom Feind in einer Metropole von Europa, mitten in Paris kaltblütig erschossen. Hass, Wut, Scham und Rache waren die einzigen Gefühle. Die erste Freundin, die ich kennenlernen durfte, wurde mit einem Mal zum ersten Şehîd, die ich kennengelernt hatte.

Der 09. Januar 2013, wurde somit zu jenem Tag an dem Heval Ronahî mich erneut lehrte, dass der Feind immer überall ist und keine Minute schläft, um anzugreifen. Sie lehrte mich, dass die Realität nicht so einfach ist, wie es scheint. Ich spürte das Feuer und den Schmerz von Heval Ronahî in mir. Den Schmerz, der Kugel, die in Heval Ronahîs Herz auf ihre Liebe abzielte. Den Schmerz, der anderen Kugel, die in Heval Ronahîs Haupt ihre Ideologie als Ziel hatte. Ihre Entschlossenheit und ihre Liebe wurden zu meiner. Und dieser Mord zeigte mir noch klarer, dass der Kampf um Befreiung unverzichtbar ist.

Viele Menschen, die den Weg der FreiheitskämpferInnen nicht akzeptieren und auf politische Lösungen bestehen, wollen die Grausamkeit des Feindes nicht wahrhaben und belügen sich selbst. Doch jeder Mensch, der zumindest einen Menschen, den er liebt und wertschätzt, verliert, fühlt diesen Schmerz und hat das Verlangen nach Rache. Ein Feind, der so grausam ist, dass er drei wundervolle Frauen auf einem Mal kaltblütig erschießt. So grausam ist, dass er unser Volk in Keller sperrt und erbarmungslos verbrennt. So grausam ist, dass er die Leichen unserer Freunde in Paketen und Tüten den Familien überreicht. Dieser Feind darf nicht weiter sein Unwesen treiben. Diesem Feind muss die Stirn geboten werden. Wie oft sollen wir noch um Gerechtigkeit schreien? Wie viele Heval Saras, Heval Rojbîns, Heval Ronahîs und wie viele Heval Evîns? „Der Feind schläft nicht“. Der 09. Januar 2013 wurde zu dem Tag an dem ich für Heval Ronahî Rache schwor. Ich schwor Rache für alle Şehîds. Ein Schwur, um ihre Träume zu kämpfen und sie zu verwirklichen. Ein Schwur, für ein freies Leben in Kurdistan und der ganzen Welt.