Die Rückkehr zur Sozialökologie

(S. 197 Jenseits von Staat, Macht und Gewalt Abdullah Öcalan)

Auch die Wurzeln der ökologischen Krise, die sich parallel zur Systemkrise verschärft, sollte sinnvollerweise am Beginn der Zivilisation untersucht werden. Man muss sich bewusst machen, dass die Entwicklung der Entfremdung zwischen den Menschen innerhalb der Gesellschaft, die durch die Herrschaft entsteht, auch eine Entfremdung zur Natur mit sich bringt.

Beides ist eng miteinander verknüpft, denn die Gesellschaft ist in ihrer Essenz ein ökologisches Phänomen. Ökologie meint hier die physikalische und biologische Natur, auf denen die Gesellschaft aufbaut. Die Wissenschaft deckt beinahe täglich neue Zusammenhänge zwischen der physikalischen und der biologischen Entwicklung auf unserem Planeten auf. Dies gehört zu den erfolgreichsten Gebieten der wissenschaftlichen Forschung. Man kann wissenschaftlich darlegen, wie das Leben im Wasser begann, sich von dort auf das Festland ausbreitete und sich zu einer Vielfalt von Pflanzen- und Tierarten entwickelte, die in ihrer Anzahl kaum überschaubar sind. Dies bildet die physikalische und biologische Basis, auf der der Mensch existieren kann. In diesem Zusammenhang wird gelegentlich angenommen, dass der Mensch das letzte Glied in der Kette der Evolution der Lebewesen bzw. der Tiere ist. Die erste Schlussfolgerung daraus ist, dass die menschliche Art nicht völlig nach Belieben lebt, sondern nur dann weiter existieren kann, wenn sie sich gemäß den Erfordernissen der Kette der Evolution verhält. Wenn die anderen Glieder zerstört werden, geht der gesamte biologische Zusammenhang verloren und es droht unweigerlich das Risiko, dass die Art ihr eigenes Weiterleben nicht mehr gewährleisten kann. Die Wissenschaft belegt, dass die Vollständigkeit der natürlichen Evolution mehr als früher angenommen auf der gegenseitigen Abhängigkeit der Arten beruht. Wenn das Band der Mutualität verloren geht, werden sich die Glieder der Evolution voneinander lösen, was dazu führt, dass sich für viele Arten das Problem der Weiterexistenz stellen wird.
Wenn keine Maßnahmen gegen die Probleme, die die Zivilisation in diesem Zusammenhang geschaffen hat, getroffen werden, ist damit bereits das Tor zur Hölle aufgestoßen. Die letztlich große Ursache für das Problem der Zivilisation: sie beruht auf Gewalt und Dummheit – oder besser gesagt, dem Zwang zu lügen.

Die Entstehung von Hierarchie und Staat


Hierarchie und Staat können in der Entstehungsphase ihre Dauerhaftigkeit nicht nur durch Gewalt gewährleisten. Heuchelei und Lüge sind unverzichtbar, um zu verschleiern, was wirklich vor sich geht. Dominanz der Macht erfordert mentale Dominanz. Eine Mentalität, die Macht garantiert, muss nun aber eine sein, in der die Unwahrheit dominiert. Die rohe, gewalttätige Seite der Macht wird stets diese Art von Geist, die subtile Seite der Macht, lebendig halten und für ihre Dominanz sorgen. Die Entstehung dieser Art von Mentalität aber stellt auch die Grundlage für die Entfremdung der Natur dar. Wenn die Gesellschaft das für sie lebenswichtige kommunale Band zerreißt und sich stattdessen in einer Art Verwirrung sich auf die Hierarchie und den Staat stützt, dann kann das Band mit der Natur in Vergessenheit geraten und zur Bedeutungslosigkeit herabgewürdigt werden. Alles, was anschließend auf diesem Boden der Zivilisation errichtet wird, wird den Bruch mit der Natur nur noch vertiefen und sich als noch stärkere Umweltzerstörung niederschlagen. Die Mächte der Zivilisation werden die natürlichen Notwendigkeiten schließlich nicht mehr wahrnehmen. Denn immerhin liefert ihnen ja die Unterschicht alles, was sie zum Leben benötigen.
So wurden die Utopien von Göttlichkeit und dem Paradies zuerst als sumerische Mythen entwickelt und fanden dann Eingang in die heiligen Schriften. Sie wurden der Menschheit in ihrer Kindheit als Grundschablonen des Denkens ins Hirn gebrannt. Gott und das Paradies existieren nur als Abstraktionen von der Natur. Besser gesagt, sie sind eine Traumwelt, die emporstreben Machthaber anstelle der wirklichen Natur entwarfen. In der Essenz sagen sie: „Wir, die wir zu Göttern wurden, leben im Paradies.“

Die zweite Version heißt: „Die Sultane, die Schatten Gottes, leben wie im Paradies.“ Die dritte Version: „Der Ausbeuter lebt wie im Paradies.“ In dem Maße, in dem erhabene göttliche Wahrheiten zur herrschenden Norm des Denkens der Gesellschaft werden, gerät Mutternatur in Vergessenheit. Mit der Annahme einer „grausamen“ oder „blinden“ Natur, die man sich „untertan“ machen muss, setzt darüber hinaus eine große Entfremdung von der Natur ein. Dass die herrschende Macht durch Grausamkeit und Lüge ein derartiges Leben im Widerspruch zur Natur möglich macht, ist letztlich die Ursache der ökologischen Probleme. Nur, wenn man die Rolle der Natur für das Leben leugnet und an ihre Stelle religiöse Figuren und Schöpfergestalten setzt, kann die Natur eine „blinde Kraft“ genannt werden. Die Wirkung dieser Denkweise erschwert bis heute insbesondere die Herausbildung einer wissenschaftlichen Denkweise. Eine wissenschaftliche Denkweise kann nur durch eine objektive Definition der Naturkräfte entstehen. Ein Glaubenssystem, das alles an Gott und des Dschinns delegiert, wird ein wunderbares Geflecht wie die Natur niemals verstehen. Wer darauf beharrt, die gesamte physikalische und biologische Natur sei von einem abstrakten „Gott“ erschaffen worden, drückt sich vor der Wissenschaftlichkeit.

Wir haben also gesehen, dass dieser abstrakte Gott eine geistige Schöpfung der ersten aufstrebenden Schicht der Ausbeuter zu ihrer eigenen Legitimation ist. Seine Gefährlichkeit besteht nicht ausschließlich darin, dass er seine Knechte und Sklaven an sich bindet, sondern auch, dass er sie von der Realität trennt. Er zerschneidet das reale Band zwischen menschlichem Geist und der Natur und entfremdet sie voneinander. An die Stelle der früheren Mutternatur tritt die grausame Natur. Dafür verantwortlich zeichnen diejenigen, welche die eigentlichen Grausamkeiten begehen. Wenn man die Stationen dieser Mentalität in der Geschichte betrachtet, wird man unweigerlich von Entsetzen ergriffen. Das Aufeinandertreffen von Menschen und Raubtieren in den Arenen des Römischen Reiches ist ein Produkt dieses Denkens.

Die grausamen Praktiken der Macht


Dass das Interesse an der Welt der Pflanzen und Tiere nach und nach an den Rand gedrängt und als dunkles Wissen diskreditiert wird, hat auch mit diesen grausamen Praktiken der Macht zu tun. Besser gesagt, Menschen und Tiere derart aufeinander zu hetzen symbolisiert im Grunde die Entfremdung der Natur. Im Feudalismus des Mittelalters ist die Welt zu einem Ort geworden, der schnellstmöglich verlassen werden sollte. Es ist ein unmoralischer Ort, der den Menschen an sich bindet und ihn zur Sünde verführt. Was ist denn schon die Natur gegenüber der Erhabenheit Gottes? Die Natur, die Welt baldmöglichst zu verlassen, war Ziel der Gläubigen geworden. Die Oberschicht hingegen setzte ihr paradiesisches Leben mit 1001 Belustigungen fort. Dieses Zerrbild ist gemeint, wenn die Rede von einer großen geistigen Verwirrung ist. Diese geistige Verwirrung ist die Grundlage für die Jahrtausende währende Rückständigkeit der mittel-östlichen Gesellschaften. Die Renaissance bedeutet im Grunde nichts anderes, als das Band mit der Natur aufs Neue zu knüpfen. Die Renaissance entfaltete ihre geistige Revolution durch die Vitalität, Kreativität und Heiligkeit der Natur. Sie ging davon aus, dass alles, was ist, in der Natur ist. In der Kunst stellte sie die Schönheiten der Natur besser dar als zuvor. Durch eine wissenschaftliche Herangehensweise erweiterte sie die Grenzen der Natur. Indem sie den Menschen zum Maßstab machte, definierte sie die Erkenntnis der Wahrheit als Ziel von Wissenschaft und Kunst. Die Neuzeit ist das Ergebnis dieses Umschwungs im Denken. Entgegen der landläufigen Meinung ist der Kapitalismus nicht das natürliche Ergebnis dieses Prozesses, sondern er wirkt verzerrend und als Rückschritt. Parallel zur Ausbeutung der Menschheit organisierte er die Ausbeutung der Natur. Er vereinigte die Herrschaft der Menschen mit der Herrschaft über die Natur. Er startete gegen die Natur den massivsten Angriff aller Zeiten. Und er begriff es als seine revolutionäre Aufgabe, die Natur auszubeuten, ohne auch nur einen Gedanken an ihre Heiligkeit, ihre Vitalität und ihr Gleichgewicht zu verlieren.

Die Heiligkeit, die in den vorausgegangenen Denksystemen zumindest in verzerrter Weise vorhanden war, ließ er völlig außen vor. Er nahm sich das Recht heraus, völlig schamlos über die Natur zu verfügen.
Schließlich verband sich die gesellschaftliche Krise mit der Krise der Umwelt. So wie das System die gesellschaftliche Krise in das Chaos-Intervall geführt hat, so hat auch die Umwelt begonnen, in Form von lebensbedrohenden Katastrophen Signale auszusenden. Krebsartig wuchernde Städte, verschmutzte Luft, die durchlöcherte Ozonschicht, das rapide beschleunigte Aussterben von Tier- und Pflanzenarten, die Zerstörung der Wälder, die Verschmutzung der Gewässer durch Abfälle und sich auftürmende Müllberge Haben die Umwelt ins Chaos und zum Aufstand getrieben. Es geht nur um den maximalen Profit, ohne Rücksicht darauf, wie viele Städte, Menschen, Fabriken, Verkehrsmittel, synthetische Stoffe, verschmutzte Luft und verschmutztes Wasser unser Planet verkraften kann. Diese negative Entwicklung ist kein Schicksal. Sie ist das Ergebnis eines unausgewogenen Gebrauchs von Wissenschaft und Technik in der Hand der Macht. Es wäre falsch, Wissenschaft und Technik für diesen Prozess verantwortlich machen zu wollen. Wissenschaft und Technik für sich genommen tragen keine Schuld. Sie funktionieren entsprechend den Kräften des gesellschaftlichen Systems. Genauso, wie sie die Natur vernichten können, können sie sie auch heilen. Das Problem ist ausschließlich ein gesellschaftliches. Es gibt einen großen Widerspruch zwischen dem Niveau von Wissenschaft und Technik und dem Lebensstandard der überwältigenden Mehrheit der Menschen. Diese Situation ist das Ergebnis der Interessen einer Minderheit, die die Verfügungsgewalt über Wissenschaft und Technik besitzt. In einem demokratisch-freiheitlichen Gesellschaftssystem dagegen werden Wissenschaft und Technik eine ökologische Rolle spielen.

Die Ökologie- eine Wissenschaft, die die Beziehung von Gesellschaft und Umwelt untersucht

Die Ökologie selbst ist ebenfalls eine Wissenschaft. Sie untersucht die Beziehung der Gesellschaft zu ihrer Umwelt. Zwar ist sie noch eine sehr junge Wissenschaft, aber sie wird eine führende Rolle spielen, wenn es darum geht, gemeinsam mit allen anderen Wissenschaften den Widerspruch zwischen Gesellschaft und Natur zu überwinden.
Das schon stellenweise entwickelte Umweltbewusstsein wird durch eine so verstandene Ökologie einen revolutionären Sprung nach vorne machen. Das Band zwischen der kommunalen Urgesellschaft und der Natur ist wie das Band zwischen Kind und Mutter. Die Natur wird als etwas Lebendiges verstanden. Die goldene Regel der Religion dieser Zeit war, nichts gegen sie zu unternehmen, um von ihr nicht bestraft zu werden. Die Naturreligion ist die Religion der kommunalen Urgesellschaft. Bei der Entstehung der Gesellschaft gibt es keinen Widerspruch zur Natur, keine Anomalie. Die Philosophie selbst definiert den Menschen als sich selbstbewusste Natur. Der Mensch ist im Grunde der am weitesten entwickelte Teil der Natur.
Dies belegt die Widernatürlichkeit und Anomalie dieses Gesellschaftssystems, welches den am weitesten entwickelten Teil der Natur in einen Widerspruch zu ihr setzt. Dass dieses Gesellschaftssystem den Menschen, der sich auf Festen begeistert mit der Natur vereinigte, zu einer solchen Plage für die Natur hat werden lassen, zeigt, dass es selbst die Plage ist.
Die Ganzheitlichkeit von Mensch und natürlicher Umwelt bezieht sich nicht nur auf Wirtschaft und Soziales. Es ist auch eine unverzichtbare philosophische Leidenschaft, die Natur zu verstehen. Das beruht eigentlich auf Gegenseitigkeit. Die Natur beweist ihre große Neugier und ihre schöpferische Kraft, indem sie zum Menschen wird. Der Mensch hingegen erkennt sich selbst, indem er die Natur begreift. Bemerkenswert, dass das sumerische Wort für Freiheit, Amargî, Rückkehr zur Mutter – also zur Natur – bedeutet. Zwischen Mensch und Natur besteht quasi eine Liebesbeziehung. Diese Liebe zu zerstören ist, religiös ausgedrückt, eine Todsünde. Denn man kann keine größere Sinnkraft erschaffen als diese. In diesem Zusammenhang zeigt sich noch einmal die bemerkenswerte Bedeutung unserer Interpretation der weiblichen Blutung. Sie ist sowohl ein Zeichen für die Entfernung von der Natur als auch

für die Herkunft aus ihr. Die Natürlichkeit der Frau rührt von ihrer Nähe zur Natur her. Darin liegt auch die eigentliche Bedeutung ihrer geheimnisvollen Anziehungskraft.
Kein Gesellschaftssystem, das nicht im Einklang mit der Natur steht, kann für sich Rationalität und Moralität beanspruchen. Daher wird das System, das am meisten im Widerspruch zur Natur steht, auch im Hinblick auf Rationalität und Moralität überwunden werden. Wie aus dieser kurzen Definition des Widerspruchs zwischen dem kapitalistischen Gesellschaftssystem und seinem jetzigen chaotischen Zustand und der katastrophalen Umweltzerstörung hervorgeht, handelt es sich um eine dialektische Beziehung. Der grundsätzliche Widerspruch zur Natur kann nur durch eine Abkehr vom System überwunden werden. Alleine durch Umweltschutzbewegungen kann er nicht gelöst werden. Auf der anderen Seite erfordert eine ökologische Gesellschaft auch eine moralische Wende. Das Amoralische am Kapitalismus kann nur durch eine ökologische Vorgehensweise überwunden werden. Der Zusammenhang von Moral und Gewissen verlangt nach einer empathischen und sympathischen Spiritualität. Das wiederum ist nur sinnvoll, wenn es auf ökologischer Kompetenz beruht. Ökologie bedeutet Freundschaft mit der Natur, Glaube an die natürliche Religion. Insofern steht die Ökologie für einen erneuten, bewussten und aufgeklärten Zusammenschluss zu einer natürlichen, organischen Gesellschaft.

(…)
Bei der Überwindung der Gesellschaft des Chaos ist in erster Linie ein wissenschaftliches und künstlerisches Denken wesentlich. Von den Grundschulen bis zu den Universitäten versucht das offizielle Bildungssystem Menschen zu schaffen, die dem Individuum, der Gesellschaft und ihrer Umwelt entfremdet und von der Hierarchie gesteuert sind. Die betrügerischen Fallen einer solchen Ausbildung müssen vermieden werden. Stattdessen müssen wir ein neues Verständnis (Paradigma) von Wissenschaft und Kunst im Sinne einer geistigen Revolution entwickeln, das den Menschen und die Gesellschaft mit der historischen Wahrheit in Kontakt bringt, den Moment befreit und in die Zukunft weist. Diesem Bedarf entsprechend sollten Sozialwissenschaftliche Akademien neuen Typs Verbreitung finden. Eine derartige „globale demokratische Zivilisation der Völker“ als Alternative zum globalen kapitalistischen Imperium des Chaos anzustreben, bewahrt den Respekt vor den Widerstandstraditionen der Vergangenheit und kann in die Welt von Morgen führen, die demokratischer, freier und gleicher sein wird, als sie es jemals war.