Die Verbundenheit von Frau, Gerîla und Natur

-Astera Dağ

Ich erinnere mich als wäre es gestern gewesen wie ich das erste Mal als Gerîla die Berge Kurdistans betreten habe. Früher schon waren die Berge Kurdistans der Anker in meinem Leben, doch das Wissen darüber, dass diese Momente des Wiedersehens immer nur vergänglich sind, ließ mich nie ruhen. So hatte ich mir versprochen, diese Berge das nächste Mal nur noch zu betreten, wenn ich mich von den Ketten des Systems befreit habe. Von den Ketten, die nicht zulassen, dass ich und diese Berge eins werden können. So war der erste Schritt als Teil dieser Freiheitsbewegung auf diesem Boden, der für die Gerîla mehr als nur Erde bedeutet, gar heilig für mich. Denn dieser Boden ist regelrecht lebendig. So lebendig, dass ich ihn spüren konnte und er mich. So lebendig, dass er mir die Energie geben kann, die ich niemals zuvor verspüren konnte.

Und es sind nicht nur die Berge, es ist das Wasser, die Steine, die Luft, die Bäume, das Sonnenlicht, dass die Erde in die schönsten goldenen Farben färbt. Es ist das gesamte Bild, dass mich jedes Mal zum Leben erweckt. Diese Aussicht ist so schön, dass man die Augen nicht von ihr nehmen kann. Ja so schön, dass man es gar nicht wagt, sie anzusehen, weil man Angst hat, dass es im nächsten Moment vorüber gehen könnte. Alles scheint perfekt zu sein wie es ist, so perfekt, dass ich es nicht wagte auch nur eine Blüte von diesem Lebensfluss zu trennen.

Ich erwischte mich immer wieder selbst dabei, wie ich aus den kleinsten Fenstern manchmal nahezu stundenlang die Natur beobachten und zuhören konnte. Jeder kleinste Ton ist auf einmal vom anderen unterscheidbar. Bei voller Hingabe hören wir nun was zur Essenz der Natur gehört und was nicht. Das Lichtspiel, das von Minute zu Minute die Farben der Berge verwandelt, das Rauschen des Wassers, alle Tiere, die vorbeihuschen. Denn schließlich versteht sich in Kurdistan Natur nicht als etwas, das sich außerhalb von einem Selbst abspielt. Ganz im Gegenteil, man verspürt das Bedürfnis, mit der Natur zu reden, so nahe fühlt man sich ihr. Denn jeder Windstoß, jeder Tropfen Wasser, der den Körper befeuchtet, jeder Körperkontakt mit der Erde erweckt Emotionen. Ich weiß sogar noch, wie ich dem fließenden Wasser, den Bäumen und Vögeln meine Gefühle nahezu jeden Tag mitteilte. Ich sagte: „Womöglich versteht ihr mich besser als je ein Mensch zuvor es tat.“ Und das meinte ich auch so! Und ich verfluchte regelrecht das kapitalistische System, das nicht zulässt, dass ich diese Natur in vollen Zügen erleben konnte.

Das Leben auf dem Bergen im Einklang

Ich verstand Tag für Tag besser, was es bedeutet mit der Natur im Einklang zu leben. Denn vor mir waren es unsere Freundinnen und Freunde, die diese Wege gingen. Sie waren es, die sich unter diesen Pflanzen versteckten, vielleicht sogar nur, um ein wenig Schatten abzubekommen. Sie waren es, die sich in Notsituationen von denselben Beerensträuchern ernährten. Von ebendiesen Wasserstellen hatten sie womöglich das Wasser geholt, mit dem sie ihr Brot backten. Ich wusste diese Natur trägt tiefe Spuren mit sich, sie hat eine Geschichte zu erzählen und wartet nur darauf, sie uns ins Ohr zu flüstern. Wir müssen nur ihre Sprache erlernen, die wir über die Jahrhunderte verlernt haben. Die erste Muttersprache der Frauen. Von ihr haben wir gelernt zu überleben. Wer es wagt, wird erkennen wie schöpferisch und unendlich wertvoll diese Erfahrungen, all diese Geschichten sind. Wer der Natur zuhört, dem wird auch die Natur ihr Gehör schenken und vor Kummer, Leid und Sorge behüten.

Ja, die Gerîla hat diese Wahrheit bereits früh erkannt. Sie lebt in der Natur, im Einklang mit ihr, eins mit ihr. Denn sie weiß: Nur mit der Natur kann sie ihr Überleben garantieren. Deswegen sind es heute die Legenden Kurdistans, die wir für ihre einzigartig natürliche Ästhetik bewundern. Im Zusammenspiel mit den Farben der Natur, mit dem starken Rückgrat der Berge, der Stimme der Meisen und Nachtigallen entwickeln sie eine völlig neue Persönlichkeit. Sie erweisen ihrem Umfeld den nötigen Respekt und das macht sie zu wundervollen Menschen. Für diese Natur können sie ihr Leben geben, so sehr sind sie in sie verliebt, so tief sehen sie in ihr ihre Geschichte und Wahrheit. Şehîd Atakan erinnerte an eine Aussage eines Überlebenden des Dersîm Massakers: „Wir haben den Schlüssel der Berge verloren.“, erzählt er. Denn an dem Punkt, an dem unsere Berge, unser Volk, unsere Identität angegriffen und vernichtet wird, spüren wir zutiefst, wie unsere Bindung zu dem, was uns ausmacht, leidet. Diese klaffenden Wunden unserer Bevölkerung versuchen wir als Gerîla zu heilen. Wir suchen nach dem Schlüssel, der es uns wieder ermöglicht mit den Bergen eins zu werden. Eins mit der Umgebung, die uns seit mehr als 16.000 Jahren aufgenommen hat, behütet und erzieht. Als Gerîla habe ich das erste Mal zutiefst verstanden, was es heißt, die Natur zu spüren. Denn ich vergesse auch nicht wie mir die Tränen ganz unkontrolliert das Gesicht herunterliefen, als ich sah, wie die Bomben des türkischen Staates die Wälder unserer Berge verbrannten. Meine Körperteile waren wie gelähmt, als ich sah wie die Natur meiner Heimat so erbarmungslos zerstört wurde, als ich zusehen musste, wie diese wunderschönen Bäume Feuer fingen und regelrecht um ihr Überleben ringen mussten.

Ökologie ist für die Gerîla eine Lebensphilosophie

Ökologie ist für die Gerîla also nicht nur eine Theorie, eine Alternative oder eine Wissenschaft. Nein, es ist vielmehr eine Lebensweise, eine Lebensphilosophie. Es ist die Liebe, der Respekt und der Wert, der jedem Bestandteil der Natur beigemessen wird. Es ist ein Versprechen das wir geben. Das Versprechen, das wir der Natur geben, sie von den Ketten eines zerstörerischen Systems zu befreien. Und vor allem als Frauen sind wir es, die diese Liebe aufblühen lassen können und dadurch ein Beispiel sind für alle Frauen dieser Welt, die ihre Freiheit im Zusammenleben mit der Natur suchen. Denn es sind Frauen wie Şehîd Şîlan Goyî die kämpften, um unseren Horizont von jeglicher Technik der Zerstörung zu befreien. Ihr Kampf und ihre Träume gehörten einem Himmel, in dem nur die Sterne, der Mond und die Sonne Platz hatten. „Drohnen und Kampfflugzeuge sind kein Teil dieses Himmels und solange sie existieren, werde ich dafür sorgen, dass sie von unserem Horizont verschwinden!“ Mit der Kampfansage, der Liebe zum Leben dieser Freundinnen und ihrem Erbe führen wir heute unseren Befreiungskampf in Harmonie mit der Natur und all ihrer Wunder weiter.