Die Kraft der Natur

Roshni Ombor

“Wenn ein Fluss vergiftet wird, dann ist das für mich so schmerzvoll wie wenn mir ein Arm abgeschnitten werden würde“ –  Eine Revolutionärin der Zapatistas

Wenn du am Fluss entlang durch den Wald spazierst, wie viel nimmst Du wahr? Wie sehr lässt Du zu, dass deine Sinne den Wald fühlen? Hörst Du das Vogelgezwitscher, das Wasser plätschern und die Blätter rascheln, wenn der Wind kommt? Spürst Du die nun gefallenen Regentropfen, die noch vom Regen gestern auf den Blättern lagen? Spürst du die Brise auf deiner Haut? Den Matsch, das Moos, die Wurzeln unter deinen Füßen? Riechst Du wie die Bäume atmen? Schmeckst du die Tannenluft und die wild-gewachsenen Brombeeren? Schaust Du mal bis oben in die Baumkronen, beobachtest die Eichhörnchen von Baum zu Baum springen, um dann mit deinem Blick der Ameisenstraße zu folgen? Begreifst Du die Kraft, die über so viele Jahre in diese Erde geflossen ist und bis heute in ihr zirkuliert, um Wälder und Weiden wachsen zu lassen, Meere, Moore und Seen aufleben zu lassen?

Begreifst du die Mühe, die in der Entstehung des Gemüse-Samens bis zu ihrer Ernte steckt? Und dies bei jedem Apfel, jeder Möhre, jeder Kartoffel, jedem Sonnenblumenkern, jedem Reiskorn und jeder Feige, die wir essen.

Wir schöpfen aus der Natur, aus dieser heiligen Erde, die Kraft, die uns leben lässt. Dabei dürfen wir „leben“ nicht nur als etwas Biologisches begreifen. „Leben“ ist der Aufbau, der Erhalt und die Fortführung von Gesellschaft und von sozialer Gemeinschaft. Es ist das gemeinsame Entdecken, Lernen, Erfahren und Lieben. Und doch geben wir der Natur heutzutage selten eine tiefe Bedeutung. 

Verteidigung der Natur ist Selbstverteidigung

Um zu verstehen, woher das kommt, werfen wir einen Blick in die Geschichte:
Den größten Teil der Menschheitsgeschichte lebten Mensch und Natur friedlich im Einklang miteinander. Mit dem Beginn der Herrschaft des Mannes fing jedoch nicht nur die Unterdrückung der Frau, sondern auch die Ausbeutung der Natur an.

Ähnlich wie das Verhältnis des Mannes zur Frau hat der Mensch heute gelernt, die Natur kontrollieren zu wollen und sie den alten starren Denkmustern anzupassen.
Das patriarchale System, in dem wir leben, beruht darauf alles in binäre Kategorien zu teilen, die getrennt voneinander sind und in einer Hierarchie zueinanderstehen: Frau und Mann, Mensch und Natur, Subjekt und Objekt, Individuum und Gesellschaft. Der Kampf gegen das patriarchale System und für eine demokratische Gesellschaft bedeutet also auch den Kampf für die Natur.

Die Verteidigung der Natur ist unsere Selbstverteidigung. Denn wir brauchen die Natur so dringend, um zu überleben, sie aber braucht uns nicht. Sie ist unser Lebenselixir. Lernen wir sie also kennen – auf all ihren Ebenen. Lasst uns das Säen und Ernten lernen, die medizinischen Pflanzen kennenlernen – die Dynamiken unserer Gesellschaft in ihr verstehen, um für unsere Schwierigkeiten in ihr eine Lösung zu finden und für diesen Weg aus ihr Kraft zu schöpfen. 

Denn wir brauchen die Natur so dringend, um zu überleben, sie aber braucht uns nicht.

Lasst uns eine ehrliche Welatparezî aufbauen. Eine so tiefe Bewunderung und Liebe für die Erde, die uns nährt, dass wir uns hingeben, um sie zu verteidigen. Um sie vor dem türkischen Regime zu verteidigen, welches unzählige Bäume in Bakur abholzt, Wälder in Flammen setzt und die Wasserzufuhr für ganze Dörfer kappt.
Lernen wir aus ihrem Widerstand – aus den Dornen, welche die Rose beschützen!

Tiefe Verbindung zur Natur aufbauen

Als junge Frauen können wir wieder eine tiefe Verbindung zur Natur finden, indem wir die Zusammenhänge des Lebens wieder erkennen und eine Beziehung zur Natur und den Menschen um uns herum aufbauen, die darauf basiert, dass wir uns als Teil von etwas Größerem sehen und einander respektvoll und liebevoll unterstützen. Indem wir die Natur verteidigen, werden wir unser Xwebûn (Selbstsein und -findung) entwickeln und damit zu unserem Selbst zurückkehren. Alles, was sich in uns als Persönlichkeit oder Dynamik findet, wird sich in der Natur spiegeln- sowie alles in der Natur sich in unserer Gesellschaft spiegelt. Lasst uns die verborgenen Kräfte entdecken, die in unserer Verbindung mit der Natur schlummern und uns voller Energie und Hoffnung auf den Weg zu einer freien Welt begeben!