Trauer zu Wut, Wut zu Widerstand

– Raperîn Ronahî

Das Erste, was man wahrnimmt, ist kein rationaler Gedanke. Es ist ein Gefühl der Ungläubigkeit. Es kann doch gar nicht sein? Wie konnte es dazu kommen? Es sind viele Stromschläge, die einem durch den Körper jagen. Das Nächste, was kommt, ist unglaublich große Wut. Diese Wut nimmt alles ein. Eine Wut auf die Umstände, welche dazu führen, dass wir keine andere Wahl haben als zu kämpfen. Die Gedanken drehen sich, liegen wie einen Schatten über dieser absurden Situation. Viele Male wieder. Jedes Mal, wenn man von der Nachricht hört, dass eine weitere Freundin oder ein weiterer Freund den Weg der Unendlichkeit gegangen ist. Ein weiteres Leben, welches sich entschloss, kompromisslos Widerstand zu leisten, wurde gegeben. Die Buchstaben eines weiteren Namens brennen sich in das Gedächtnis. So vieles ist an diese Buchstaben geknüpft. Und so vieles sprießt daraus – was nicht zulässt, dass eine Leere entsteht.

Kämpfer, Sucher und Finder

Wir sind so voll. Geladen von Gedanken und Gefühlen. In Gedanken an die Freunde liegt eine so tiefe Verbundenheit. Die Bedeutung ihres Lebens füllt unser Leben. So knüpfen wir an dem an, was sie ausgemacht hat. Wofür sie gelebt und gekämpft haben. So sind wir in der Lage, sie verstehen zu können. Denn sie sind KämpferInnen, SucherInnen und FinderInnen. In dieser durcheinander geratenen Welt fanden sie die Klarheit im trüben Fluss. Ihre Blicke sind tief und durchdringend. Ihr Herzschlag wurde zum leitenden Rhythmus vieler weiterer Menschen, die ihm folgten, die sich leiten ließen und nun an dem Platz sind, wo sie handeln, wo sie sich nicht verlieren. Das Leben der Şehîds ist unser Motor, sie zeigen uns die Klarheit. Die Vernebelung ist nicht undurchdringbar. Es liegt an uns, wie sehr wir uns auf dieses klare Wasser einlassen. Das weiche Wasser.

Harmonie im trüben Fluss

Die Stromschnellen dieses Flusses wühlen oft eine Menge auf, sie wirbeln Matsch von unten hoch. Es stürmt dann im Flussbett, es trübt die Sicht. Doch fließt der Fluss in Harmonie. Zu dieser Harmonie gehört eben auch der Strom dazu, nur ist es wichtig, dass er nicht blind zerstört. So ist es auch mit der Wut. Leitet sie uns vollkommen, füllt sie uns aus, dann sind wir nicht in der Lage eine klare Sicht zu bekommen. Dann sehen wir nur noch trüb und verschwommen, wir reagieren nicht durchdacht, sondern laufen Gefahr fehlgeleitet zu handeln. Wenn wir jedoch unsere Wut, die ihren Platz braucht, die wichtig ist, als unseren Motor begreifen und sie in einen Akt des Widerstandes umwandeln, werden wir nicht blind zerstören. Dann wurde durch den Sturm Platz geschaffen und das Flussbett ausgeweitet, das ganze System des Flusses gelangt zu seiner Harmonie. Schaffen wir es nämlich unsere Emotionen in ihrer Tiefe zu verstehen, sie nicht nur oberflächig wahrzunehmen und in einer Lösungslosigkeit in ihnen zu versinken, haben wir den Nährboden für große Handlungen geschaffen.

Den Feind unsere Rache spüren lassen

Schaffen wir also ein Bewusstsein für die Entstehung und den Ursprung unserer Emotionen, werden wir es schaffen, nicht in der Trauer zu versinken. Aus der Trauer wächst Wut und daraus Widerstand. Der Umgang mit den eigenen Emotionen ist sehr herausfordernd, wir als junge Frauen wurden stark davon getrennt. Gerade die Wut einer Frau ist eine Emotion, welche im Patriarchat schon sehr lange als ziemlich gefährlich angesehen wurde. Es wurde von Hysterie gesprochen, von verrückten Frauen, die sich nicht unter Kontrolle haben. Auf dieser Grundlage wurden tausende Frauen in Europa auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Denn das, was in der Wut einer Frau steckt, ist das größte Potential zur Veränderung und zur Überwindung der Zustände des Systems.

Wenn wir es also schaffen, aus den Lügen und der Vorbestimmung des Patriarchats auszubrechen, legen wir eine Grundlage für die Veränderung. Wenn wir es schaffen unsere Emotionen zu organisieren und sie als unseren Motor begreifen, sind wir in der Lage, den Feind tausendmal stärker unsere Rache spüren zu lassen. Nur so werden wir dem Kampf der Şehîds gerecht, nur so können wir eine Rache nehmen, welche nicht blind zerstört, sondern alles Hässliche dazu zwingt, sich zum Schönsten zu ändern. Die Schönheit der Realität der Şehîds ist unsere Strahlkraft. Und durch diese Wärme werden viele neue Blumen und Knospen da sprießen, wo der Feind versucht jegliche Existenz auszulöschen. Sie werden genau da sprießen, wo es dem Feind am ungemütlichsten sein wird, wo es ihn am stärksten angreifen wird.