Gefühllose Menschen Werden Gemacht, Nicht Geboren!

– Nûcan Viyan

Emotionen machen uns zu dem, was wir sind. Sie dominieren unseren Alltag.

Egal was wir machen, denken, mit wem wir reden: In den verschiedensten Momenten empfinden wir die unterschiedlichsten Gefühle. Das eigene Gefühlserleben als individuell zu betrachten, ist nicht richtig. Emotionen entwickeln sich mit der Menschheit. Die Entwicklungsannahme bezieht sich ja nicht nur auf die Spanne eines einzelnen Menschenlebens, auf das, was zwischen Geburt und Tod passiert, sondern geht noch viel tiefer in die Geschichte zurück. Die Entwicklung von Emotionen wird von historischen Veränderungen, der Beschaffenheit von Orten und neuen Gegebenheiten bestimmt. Das heißt dann auch, dass unsere Emotionen beeinflusst werden können.

Für uns stellt sich dann die Frage: Welche Emotionen sind wirklich unsere? Durch wen oder was empfinden wir diese Gefühle? Warum fühlen wir so, oder eben auch nicht? Und warum spielt das so eine große Rolle im Bezug auf unsere Entscheidungen?

Werden meine Gefühle manipuliert?

Emotionen spielen überall, wo Menschen miteinander zu tun haben, eine Rolle. Denn oft sind es Emotionen, von denen wir uns leiten lassen. Emotionen können unser ganzes Handeln bestimmen. Dieser Relevanz von Emotionen ist sich auch der Herrschaftsapparat bewusst und daher baut seine Macht vor allem auf manipulierten und unterdrückten Emotionen auf. Für die Aufrechterhaltung seines Systems sieht er die Kontrolle der Gesellschaft als besonders wichtig an. Dies versucht der Staat nicht nur durch physische Angriffe herzustellen, sondern vor allem durch mentale Angriffe, die den Charakter bis zu den Gefühlen kontrollieren sollen. Der Staat, welcher vor allem mit dem Ziel der Kontrolle unserer Emotionen handelt, hat zugleich das Ziel, die etatistische Gesellschaft aufrecht zu erhalten. Das ist auch keine neue Methode, die sich erst in der Ära der (a)sozialen Medien entwickelt hat, sondern geht noch viel weiter zurück.

Besonders nutzte man in der Vergangenheit die Emotion der Angst, um die Gesellschaft dazu zu bringen, der Mahnung Folge zu leisten. So waren immer schon Emotionen und vor allem die Angst ein Mittel von Herrschaft, die als Macht über Emotionen wirkt. Wenn eben die Liebe der Untertanen fehlte, hat man die „Loyalität“ durch Angst errungen. Aber nicht nur totalitäre Regime betreiben Gefühlserziehung und Gefühlsmanipulation. Auch vermeintlich demokratische Systeme versuchen die Gesellschaft zu beeinflussen und zu bilden. Diese Anstrengungen fangen schon in der Kindheit an. Dies wird im Kindesalter vom Kindergarten bis hin zur schulischen Laufbahn vom Staat in Gang gesetzt. Vom Schulsystem, aber auch von spezieller Kriegsführung werden unsere Emotionen kontrolliert. Schulen vermitteln also nicht nur kognitives Wissen, sondern auch Verhalten und Gefühle. Vom Kindesalter an werden unsere Gedanken und Gefühle kontrolliert. Schon seit unserer Kindheit wird uns erklärt, wie wir zu denken bzw. zu fühlen haben.

Gefühllose Menschen durch Medienpropaganda

Die spezielle Kriegsführung, welche auf digitalen Medien, Fernsehen, Musik, Mode, Sport etc. geführt wird, spielen für die Kontrolle der Gesellschaft eine enorm wichtige Rolle. In der Schule lernen wir, was der Staat für wichtig hält. Auf digitalen Medien wird uns gezeigt, was „richtig“ oder „falsch“ ist und wie wir zu fühlen oder gar nicht zu fühlen haben. Vor allem durch die digitalen Medien greift der Staat unsere Gefühlswelt an, teilweise versucht er uns dadurch zu gefühllosen Menschen zu machen. Vor allem im Krieg wird deutlich, dass es Staaten sind, die durch ihren Waffenhandel und ihre Außenpolitik, die niemandem als ihnen dienen, Menschen dazu zwingen, ihre Heimat zu verlassen. Als wäre das nicht genug des Übels, schüren eben diese Staaten in ihren eigenen Grenzen Hass gegen Menschen, die sie zu Flüchtlingen gemacht haben. Ihre Propaganda dient dazu, das Mitgefühl zwischen Menschen zu zerstören und Gefühllosigkeit zu schaffen. Besonders ist das mit den Gefühlen der Bourgeoisie gelungen, denn diese wurden eingefroren, verrostet, ja eigentlich sogar fast gefühllos gemacht und damit von ihrem Selbstsein entfernt. Alle staatlichen Anstrengungen dienen natürlich dem Ziel, eine homogenisierte Gesellschaft zu erschaffen. Aber was ist eigentlich eine homogenisierte Gesellschaft? Der Staat strebt nach einer Gesellschaft, welche nur eine Identität zulässt. Er strebt nach einer Sprache, einer Kultur, bestimmten Emotionen und einem Ziel. Und zwar dem Ziel der Entfremdung des Selbst. Er strebt danach, dass man eins wird mit dem Staat und immer weniger mit sich selbst, mit der eigenen Sprache, Kultur, Emotionen und mit den eigenen Zielen verbunden ist.

Es entstehen Komplexe

Unter dieser Herangehensweise leiden meistenteils unterdrückte Völker sowie Religionen. Vor allem die kurdische Bevölkerung, welche seit Jahren physisch, aber auch politisch von Assimilation betroffen ist, leidet unter diesen anti-gesellschaftlichen Zielen des Staates. Gleichzeitig wird die Normalisierung dieser Genozid-Politik angestrebt. Dafür nutzt der Staat, wie in frühen Zeiten auch, vor allem die Emotion der Angst, um die kurdische Gesellschaft seinem Willen nach zu lenken. Durch seine ständigen Angriffe versucht er Angst zu schaffen, aber es bleibt nicht nur bei der Angst. Durch ständige Angriffe soll eine Gefühllosigkeit entstehen, sodass der Zustand als „normal“ angesehen wird. Etwas, das man „eh ständig zu Augen bekommt“, etwas was sich „wiederholend“ anfühlen soll. Und durch diese Wiederholung zur Normalität gemacht werden soll.

Er greift besonders mental an, weil der Staat eingesehen hat, dass er durch physische Angriffe nicht gegen das kurdische Volk an sein Ziel ankommt. Erst vor kurzem hat der faschistische türkische Staat Leichname von FreundInnen zerstückelt, in Tüten gepackt und per Post ihren Familien zugesandt. Vom Faschismus kann man keine Gefühle erwarten. Das waren keine Zufälle. Durch diese Unmenschlichkeit greift er das Zusammenleben an. Indem er die Gefühle, die für den Zusammenhalt in der Gesellschaft maßgeblich sind einzufrieren versucht. Denn ohne Gefühle gibt es auch keine Rache, keinen Zorn und somit keine Aufstände gegen den Staat. Insbesondere die kurdische Jugend verliert durch diese Herangehensweise immer mehr die Nähe zu sich selbst. Die Jugendlichen verlieren den Zustand, eins mit sich und ihrer Sprache, ihrer Kultur, ihrer Religion zu sein. Durch den Verlust vom eigenen Selbst, fehlt auch der Mut. Es kommt zum fehlenden Mut und geht über bis zum fehlenden Selbstbewusstsein und zu Depressionen, dies sorgt auch für fehlende Lebenslust. Oft sehen wir kurdische Jugendliche, die sich sehr klein machen gegenüber Anderen oder gar nicht die Kraft zur Veränderung in sich spüren. Das ist eine Problematik, anhand der der kurdischen Jugend der Einfluss der kapitalistischen Moderne stark anzusehen ist. Es sind Unterdrückungskomplexe, welche innerhalb der Jugend vorhanden sind. Komplexe, welche zu mangelndem Verantwortungsbewusstsein und mangelnder Verantwortung gegenüber der Realität Kurdistans geführt haben.

„Da wo man etwas verloren hat, muss man anfangen zu suchen“

Rêber APO sagt: „Da wo man etwas verloren hat, muss man anfangen zu suchen.“ Das heißt, um uns selbst zu verstehen, müssen wir erst einmal zu unserem Selbstsein – Xwebûn – zurückkehren, denn vor allem mit dem Verstehen unserer Geschichte, unserer Kultur sowie unserer Emotionen können wir gegen diese Angriffe Widerstand leisten. Diesen Widerstand leisten wir mit der Organisierung. So sind wir die Antwort auf all diese Angriffe.

Je mehr wir uns mit uns selbst und unserer wahrhaftigen Emotion, Kultur, Religion, Sprache, etc. beschäftigen, desto mehr kommen wir der Wahrheit, welche in der Freiheit versteckt ist, nahe. Auf der Suche zur Wahrheit zeigen unsere Şehîds uns, dass es riesige Gefühle braucht, um sich der Freiheit zu nähern. Das Gefühl der Freiheit wird manchmal durch ein bloßes Lächeln der Guerillas ausgelöst. Wenn ein Mensch Mut, Militanz, Stärke und Selbstvertrauen ausstrahlt, dann fühlt man sich doch selbst automatisch angezogen.

In all dem will man sich selbst sehen und auch diesen Mut, diese Militanz und diese Stärke spüren. Dieses Ziel erreichen wir aber nur gemeinsam. Gemeinsam als eine Organisierung und gemeinsam als freie Frauen, die versklavte Gefühle ablehnen und nach Gefühlen der Freiheit streben!