Warum die Frau der Freiheit näher ist

– Sara Rûken

Ich habe mich schon oft gefragt, ob das Zufall ist oder mit dem Wetter zusammenhängt, aber unzählige Male brauchten meine Freundinnen und ich nur von Weitem einander anzuschauen, um zu verstehen, was die jeweils andere gerade denkt. Ohne Worte oder Zeichen, durch bloßes Gefühl verstanden wir uns. Es mag sein, dass diese ausgeprägtere emotionale Intelligenz nicht bei allen Frauen gleich viel oder bei allen Männern gleich wenig ausgeprägt ist, aber dennoch fällt auf, dass es meist junge Frauen sind, die sofort merken, wenn jemand unglücklich, überglücklich oder ängstlich ist. Es sind meistens Frauen, deren Gewissen es nicht aushält, jemanden verletzt zu haben. Es sind viel zu oft Frauen, die nachts nicht schlafen können, weil sie über ihr Fehlverhalten grübeln. Man kann sagen, dass emotionale Intelligenz bei der Frau stärker ausgeprägt ist. Ihr Reflex für andere zu sorgen, Empfindungen der Mitmenschen auch zu spüren oder den Bedürfnissen anderer sogar zuvorzukommen, ließ unsere Gesellschaft entstehen.

Das was Gemeinschaft aufbaut, ist ja schließlich eins zu sein, für einander da zu sein, mit einander zu denken, und Schmerz, sowie Freude zu teilen.

Die Frau soll fühlen, der Mann denken?!

Das heißt natürlich nicht, dass Eines das Andere ausschließt. Jeder Mensch hat die Fähigkeit zu denken und zu fühlen. Das ist sogar einer der entscheidenden Unterschiede des Menschen zu anderen weit entwickelten Lebewesen. Allerdings hat sich die Herrschaftsgeschichte auf dem Gedanken gegründet, die Frau vom Denken und den Mann vom Fühlen abzukapseln. Wie in allen Bereichen des Lebens schaffte das Patriarchat (die Herrschaft des Mannes) eine Trennung, die behauptet, alles, was sich widerspricht, müsse sich auch zerstören. Anstatt hell und dunkel, warm und kalt, Leben und Tod als einander bedingende Widersprüche zu erkennen und darin Zusammenhalt zu spüren, wurden Widersprüche zu sich gegenseitig vernichtenden Gegenteilen erklärt. Besonders wurden Körper und Geist von diesem zerstörerischen Gedanken, der auch als Positivismus bezeichnet wird, in Teile gerissen. Die Gesellschaft, die nur durch Vielfalt reich leben kann, sowie der Mensch, der nur als Ganzes (Körper und Geist; Gedanken und Gefühle) leben kann, wurden somit zerstückelt. Dabei wurden Frau und Mann zu dem vermeintlich größten Widerspruch erklärt: Die Frau, die wegen ihrer stärkeren emotionalen Intelligenz als „rein emotional” gestempelt wurde und als Gegensatz dazu der Mann, der keine Gefühle kennt, nur in Zahlen und Daten denkt, stets berechnet und rational ist. Dieses Märchen erzählten uns Staaten in den letzten Jahrhunderten ununterbrochen.

Du Mädchen!

Dieser tiefgreifende Sexismus, der sich besonders hinter den Entwicklungen der letzten 400 Jahre verbirgt, hat dazu geführt, dass heute Rollenbilder existieren, die sowohl Männer als auch Frauen quälen. Ist das nicht absurd, dass ein Mann, der ein bisschen gefühlvoller, sensibler oder aufmerksamer für seine Umgebung ist, als Sensibelchen oder Mädchen beleidigt wird? Denn Frau sein wird ja als schwach sein verstanden… Oder noch häufiger, eine Frau die klug, gut in Mathe und Chemie ist, als männlich bezeichnet wird. Klug sein wird also daran gemessen, von den eigenen Gefühlen entkoppelt zu sein und möglichst emotionslos zu wirken. Hier wird ganz deutlich, dass es als Schwäche angesehen wird, emotional zu sein. Die Eigenschaft, die unser Leben überhaupt erst möglich gemacht hat, nämlich die Eigenschaften, gemeinschaftlich zu fühlen, zu denken und zu handeln, werden heute als erbärmlich und fehlerhafte Schwäche betrachtet.

Wird allerdings eine Frau als analytisch oder klug bezeichnet, wird sie mit dem Mann verglichen und als ihm ähnlich benannt. Womit sogar ein angebliches Kompliment wie „Deine Tochter ist ja wirklich clever, im logischen Denken kommt sie ganz nach ihrem Vater…” zur Beleidigung gegen unsere Identität als Frauen wird.

Da ist es nicht schwer zu verstehen, dass viele Frauen in solche Kompliment-Fallen hineintappen und selbst auch als „gefühlslos”, „unemotional” und „cool” gelten möchten, da sie die männliche Vorherrschaft und angebliche Stärke damit in Verbindung bringen. Sie sehen, dass männlich sein in der Gesellschaft bevorzugt und sogar angehimmelt wird und nehmen sich dasselbe zum Vorbild. So kommt es, dass junge Frauen ihre Gefühle oft extrem unterdrücken, um ja nicht als „sensibel”, also „schwach“, zu gelten.

Näher an der Freiheit

Das, was das kapitalistisch System am Allermeisten ausnutzt, sind die Gefühle und die empathische Fähigkeit von Frauen. Denn sobald es diese Fähigkeit nicht mehr als „aufopferungsvolle Mutter”-Rolle oder die „bis zum Tod liebende Ehefrauen”-Rolle instrumentalisieren kann, ist es genau dieses Fühlen, was Frauen verbindet, so dass sie zu einander halten, was sie der Freiheit umso näher sein lässt. Die Gefühle der Frau werden im Patriarchat als Eigentum des Mannes oder „stets zu Diensten“ der Männerherrschaft stehend, angesehen. Aber da Frauen ihre Gefühle nicht in diesen Käfig zwingen können, wird alles, was Frauen verbindet, stärkt oder ihrem Selbst näherkommen lässt, als überemotional, sensibel und kindisch verspottet. Dabei sind es diese Gefühle, in denen die Verbindung der Frau zur Natur, die von ihr am meisten bewahrt wurde, zum Ausdruck kommt. Denn emotionale Intelligenz begann eben nicht erst mit den Säugetieren, sondern lässt sich bis zum Beginn des Universums zurückführen. Oder haben die Anordnung der Sterne am Himmel, eine Blüten bestäubende Biene oder ein Spinnennetz keine atemberaubende Intelligenz? Alles in der Natur hat einen Zusammenhang, der wie auf einer geheimen Absprache zu beruhen scheint. Selbst der ödeste Nadelwald ist klüger und ausgefeilter als ein Hochhaus. Oder schauen wir uns mal ein Ameisenschloss an… Die Frau ist dieser Intelligenz am allernächsten. Sie kann sich durch ihre Emotionale Intelligenz viel leichter mit anderen Menschen und ihrer Umgebung verbinden und spürt sie intensiver. Somit ist auch ihr Empathievermögen ihre größte Stärke. Dadurch ist sie kollektiver, und es ist diese Kollektivität, die eine freie, sich selbst verwaltende Gesellschaft erschafft.

Egoismus versklavt

Wenn man jedoch nicht lernt, Andere mitzudenken, nicht emphatisch ist und immer erst an sich selbst denkt, steht man seiner eigenen Freiheit selbst im Weg. Denn durch Egoismus zerstört man Kollektivität und versklavt somit sich selbst und die Gesellschaft als Ganzes. Das heißt aber nicht, dass jedes Gefühl den Menschen zur Freiheit führt. Ja, die Frau ist der Freiheit näher, aber diese Nähe wird erst dann spürbar, wenn sie lernt, die Gefühle zu organisieren. Organisieren bedeutet in diesem Sinne, die Gefühle an ein Ziel zu knüpfen. Sprich, das intelligente Denken und Fühlen in sich zu verbinden und mit dem Ziel eines freien Lebens die eigenen Gefühle mit der Freiheit zu verknüpfen.

Das bedeutet zum Beispiel zu hinterfragen: Warum fühle ich jetzt dieses Gefühl? Durch was wird dieses Gefühl in mir ausgelöst? Und wem dient dieses Gefühl gerade – der Freiheit oder doch dem System? Somit können uns organisierte Gefühle helfen, unsere Verbundenheit mit der Natur und Gesellschaft zu stärken, indem wir uns nicht von kleinen, unnötigen oder gar egoistischen Gefühlen lenken lassen. Viel eher gilt es den großen Gefühlen des Widerstands und des Kampfes, die da draußen auf uns warten, nachzujagen. Es gilt dem Gefühl der Aufregung nachzustreben, das wir haben, wenn wir etwas Neues lernen, unseren Horizont erweitern oder mit Menschen, die das gleiche Ziel teilen, eins werden.