Warum eigentlich immer dieses Gefühlschaos?

– Stêrk Dağ

Wir kennen es alle: Manchmal haben wir das Gefühl, dass uns die gesamte Welt einfach über den Kopf wächst. Vor lauter Stress, Müdigkeit, Wut oder Trauer würden wir uns am liebsten den ganzen Tag oder gleich die gesamte Woche frei nehmen von allem, und nicht mehr aus dem Bett aufstehen. Am besten suchen wir uns dann noch die Musik oder den Film oder die Serie aus, die am besten zu unserer Stimmung passt, damit wir merken, spüren oder sicher gehen, dass wir nicht die Einzigen sind mit diesen Emotionen. Doch warum eigentlich immer dieses Gefühlschaos? Warum versinken wir manchmal so tief in unseren Emotionen, finden kaum noch einen Ausweg, grenzen uns daher von allen Schwierigkeiten und Problemen ab?

Gleichzeitig sehen wir jedoch auch wie sehr sich Emotionslosigkeit in der Gesellschaft verbreitet. Ist das nicht ein Widerspruch in sich?

Hunger, Not, Krieg und Grausamkeiten trafen früher viel mehr auf Widerstand in der Gesellschaft. Und auch Freude und Liebe hatten einen anderen, viel größeren Wert für viele Menschen. Dieser Frage wollen wir ein wenig nachgehen und die Gründe und den Ursprung dieser Widersprüche besser nachvollziehen, um uns selber und unsere Emotionen besser zu verstehen, oder wie wir es auch nennen: Unsere Emotionen zu politisieren.

Unsere materiellen Bedürfnisse werden beeinflusst

Das kapitalistische System hat es geschafft, den materiellen Bereich unseres Lebens, also all unsere materiellen Bedürfnisse als Individuen, zu beeinflussen. Oft denken wir, dass wir Dinge brauchen, an die wir zuvor nie gedacht hätten, weil sie plötzlich im Trend sind, überall in Werbungen auftauchen oder in Filmen und Serien ständig davon die Rede ist.

Allein das Auftauchen eines Gegenstandes mehrmals am Tag und unsere Wahrnehmung dessen beeinflusst unseren Wunsch danach. Ähnlich verhält es sich aber auch mit unseren Gefühlen und Werten. Gefühle, die wir empfinden, hängen nicht nur von uns selbst oder, wie es immer gepriesen wird, von unserer inneren Welt ab.

Was unsere Gefühle beeinflusst ist immer noch alles, was wir erleben, sehen, spüren, fühlen, hören, schmecken, etc.. All unsere Sinne und unsere Wahrnehmungen erzeugen unterschiedliche Gefühle in uns. Bis hier hin kann man mehr oder weniger folgen, nehme ich an. Doch warum sind wir so emotional und doch auch nicht? Beziehungsweise wann werden wir emotional und wann ist uns plötzlich wieder alles egal?

Die kapitalistische Moderne kann sich nur weiterhin am Leben erhalten, wenn sie sich selbst reproduziert. Dies gilt für alle Systeme, die bis heute existiert haben. Dafür reicht aber eine rein materielle Produktion und Reproduktion in Massen nicht aus. Auch unsere Gefühle, Werte und Wünsche müssen sich entsprechend den Normen einer kapitalistischen Welt anpassen. Das heißt, alles, was das Individuum antreibt, ist vorerst positiv. Sprich, alles was unseren individuellen Interessen fördert, kann für das System von Vorteil sein, solange das Individuum nach mehr strebt, sich selbst in das Zentrum seiner Wünsche und Vorstellungen rückt und nur persönlichen Bedürfnissen nachgeht.

Bin ich wirklich ein emotionaler Mensch?

Speziell zu unseren Gefühlen wird uns oft gesagt, wie wichtig sie sind, dass wir auf sie hören müssen und uns Zeit nehmen müssen, um unsere Gefühle zu verstehen. Doch wer unsere Gefühle wie beeinflusst und warum, hinterfragen wir selten. Dabei sehen wir, dass die Gesellschaft oft nur besonders emotional und betroffen ist, wenn es um sie selbst geht. Menschen sollten spüren, mitfühlen und Emotionen teilen, wenn es angebracht ist, wenn es auch dem System dient. Da Kapitalismus aber nur das Individuum sieht und jegliche Gesellschaftlichkeit vernichtet, sind auch gesellschaftliche Emotionen nicht angebracht. Sobald ein Krieg ausbricht sympathisiert man beispielsweise sofort mit denjenigen, die dieselbe Hautfarbe, Nationalität, Religion oder dasselbe Geschlecht besitzen. In Allem sucht man nach sich selbst, weil das Individuum dabei immer die wichtigste Rolle spielt. Ein kollektiver Geist oder kollektive Emotionen fallen hierbei aus.

Dabei sind unsere Emotionen das, was uns mit der Gesellschaft, mit der Natur und mit der gesamten Welt, ja sogar mit dem Universum vereint. Jedes einzelne Gefühl ist das Ergebnis von Energien, die in der Natur fließen und uns anregen. Unsere emotionale Intelligenz macht es für uns Menschen möglich, das Universum besser zu verstehen, Dinge besser einzuordnen, Gutem von Schlechtem zu trennen. Dabei ist es immer wichtig, gesellschaftliche Werte zu berücksichtigen. Definitiv hat jeder Mensch individuelle Gefühle, spürt gewisse Dinge intensiver oder anders als jemand anderes. Doch sollte gegenüber gewissen Ereignissen jeder anders empfinden, entwickelt sich keinerlei Kollektivität mehr, kein Zusammenhalt und keine gemeinsamen Werte. Deshalb ist es immer wichtig sich zu fragen, welche Gefühle wir weshalb und wie ausleben.

Grundsätzlich schafft es das kapitalistische System außerordentlich gut, unsere Gefühle einzuengen. Gefühle tief zu spüren, ist nicht dasselbe wie eine weit gefasste Gefühlswelt zu haben. Beispielsweise kann ich in meiner eigenen Trauer versinken und meinen Gefühlen immer den Vorrang geben. Dasselbe gilt auch für Liebe. Natürlich können wir Liebe sehr individuell und auf eine Person reduziert leben. Doch mit großen und weitgefassten Emotionen meinen wir Gefühle, die die ganze Gesellschaft gemeinsam teilt. Gefühle, die nicht auf die Person beschränkt sind. Wir sprechen von gesellschaftlichen Gefühlen. Das heißt, wenn ein Individuum in der Gesellschaft leidet, können alle, die die emotionale Intelligenz aufzeigen, die es braucht, um eben diesen Schmerz mit zu empfinden, gemeinsam nach Lösungen suchen. Diese Gefühle dienen gleichzeitig der Gesellschaft als Selbstverteidigung.

Nur so erfüllen Emotionen ihren eigentlichen Sinn

Unsere Gefühle sind es oft, die uns zeigen was richtig und falsch ist, wann zu handeln ist und wo ein Angriff auf gesellschaftliche Werte, nicht nur auf einen Selbst, stattfindet. Deshalb gilt es umso mehr diese Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und kollektive Gefühle zu schützen. Was gilt es also zu tun? Warum sind gerade wir als junge Frauen in Europa so stark von diesem Thema betroffen? Wir als junge Frauen haben die größte Kapazität emotionale Intelligenz in uns selbst und in Anderen zu erzeugen und zu bewahren. Das System wirft uns oft, in einem negativen Zusammenhang, vor zu emotional zu sein, nicht rational denken zu können, nicht logisch zu handeln. Doch wir wissen genau, dass die Logik und der Rationalismus des Patriarchats uns in die größte Krise der Menschheit getrieben hat. Wir müssen trotz allen Vorwürfen fest daran glauben, dass das Erkennen der Emotionen wichtig ist! Emotionen sind es, die uns vor großen Katastrophen bewahren können. Kollektive und politisierte Emotionen können Machtsucht und Gewalt ein Ende setzen. Wenn wir es schaffen, nicht zum Sklaven unserer eigenen Emotionen zu werden, sondern ihnen eine Bedeutung zu schenken, sie besser zu verstehen, wenn wir eine Antwort auf ihre Ursachen darstellen können, werden wir zu Menschen, die der Freiheit einen Schritt näher gekommen sind. Rêber APO sagt: „Damit zu beginnen, deine Emotionen in Politisierung und Sozialisierung zu investieren, wird das Wichtigste sein, was du für den Aufbau eines freien Lebens tun kannst.” Besonders im Zentrum der kapitalistische Moderne sind wir mit den Angriffen dieses Systems konfrontiert. Das heißt, besonders hier in Europa entwickeln sich extrem individuelle und eng gefasste Emotionen, dadurch entfernen wir uns immer mehr von der wahren Bedeutung der Emotionen. Dabei können sie der Garant für eine freie und moralische Gesellschaft sein. Die Unorganisiertheit unserer Emotionen, die Tatsache, dass sie nicht politisiert sind und die Unfähigkeit, die emotionale Intelligenz in uns selbst zu erkennen, führt zur Unfähigkeit, sich auf richtige und zielführende Lösungen zu konzentrieren. Wir werden unfähig, Ergebnisse zu erzielen. Vorurteile entstehen schnell, falsche oder zu schnelle Entscheidungen werden getroffen – kurz gesagt: Ein Verlust in vielen Bereichen des Lebens wird durchlebt. Vor allem aber macht es die Menschen verletzlich. Wenn wir es auch hier schaffen, uns von versklavenden, individuellen und extrem sensiblen Emotionen zu befreien, können wir uns noch größeren Taten widmen. Große Gefühle erzeugen große Taten und große Taten erzeugen starke Persönlichkeiten. Also sollten wir nicht vor jedem Problem in unserer Emotionalität versinken. Lasst uns auf unsere Wut, Trauer und unsere Freude hören. Wann immer wir etwas verspüren, sollten wir wissen, warum wir das tun und immer die beste Antwort auf die Emotion sein. Nur so werden wir uns von den Ketten, die das System durch unsere eigene Emotionalität erzeugt, befreien können. Nur so erfüllen Emotionen ihren eigentlichen Sinn.